Qual ohne Ende
Zum Vergehen von Moses Rosenkranz
Interview mit einem Opfer

BURKHARD BALTZER: Wie ist Ihre Familie nach Lenzkirch-Kappel gelangt?
M.K.: Wir zogen im Sommer 1972 dorthin, zu Beginn meines vierten Schuljahres. Zuvor hatten sich meine Eltern scheiden lassen. Meine Mutter hatte in Kappel einen Job bekommen als Leiterin des Kinderkurheims „Sonnenhalde“. Sie hat ihn angetreten, weil ihr zugesichert worden war, dass ihre Kinder tagsüber bei ihr sein konnten. Das war entscheidend, denn mein Bruder ging zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Schule.

BALTZER: Doris und Moses Rosenkranz waren Ihre unmittelbaren Nachbarn. Was strahlten Sie aus? Was waren das für Menschen?
K: Wir wohnten im Nachbarhaus in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss. Das erste, was ich wahrnahm: Rosenkranzens Haus war riesengroß. Ich hatte mit ihnen auf zwei Arten sofort Kontakt. Doris Rosenkranz war meine Lehrerin in der Grundschule und Moses Rosenkranz war ihr Mann.

BALTZER: Wie lange wurden Sie von ihm missbraucht?
K: Wir lebten ein Jahr in Kappel. Und ein Jahr lang bin ich missbraucht worden. Bis wir in einen anderen Ort umgezogen sind. Ich erinnere mich an das erste Mal, als mir etwas komisch vorkam. Mein Bruder und ich waren damals gemeinsam in seinem Haus. Er tobte mit uns, es war ganz toll, dass sich ein Erwachsener eine halbe Stunde Zeit nahm, Fangen zu spielen, durchs ganze Haus, hoch und runter. Im Erdgeschoss links gab es einen Raum, in dem ein paar Matratzen lagen. Beim Spielen hat er meinem Bruder, der auf dem Bauch lag, die Hose heruntergezogen, sodass man sein nacktes Hinterteil gesehen hat. Dann hat er gelacht und gesagt: „Na, hat dein Bruder nicht ein hübsches Gesichtchen?“ Ich fand das komisch, ich fand das doof. Im Abwägen, dass da jemand mit uns rumtollte und nicht ständig schrie, nun seid mal leise, nahm ich das in Kauf. Dann hat er wieder meinen Bruder verfolgt, der – wieder angekleidet – gefangen werden sollte. Dabei hat er mich über die Schulter getragen und gemeint, ich solle ihn von hinten durch die Hosen an den Schwanz fassen und an die Eier. Ich fand das „schräg“, wie man heute sagt und dachte: Na, wenn´s zum Spiel dazu gehört… So fing das an. Später war nur noch ich mit ihm zusammen. Mein Bruder verbrachte die meiste Zeit mit meiner Mutter.

BALTZER: Die Übergriffe waren also keine Überrumpelung?
K: Nicht im Sinne von Tür zuschließen, in die Ecke drängen und sagen: So jetzt machen wir mal was Tolles miteinander. Es geschah schleichend. Immer wurde die Grenze ein klein, klein wenig weiter verschoben. Ich empfand das Erste schon komisch, jedoch nicht so, dass ich mich gewehrt hätte. Er war für mich der Erwachsene, der sagte: Das macht man so bei diesem Spiel.

BALTZER: Wie oft hat er Sie nach dem ersten Übergriff missbraucht?
K: Ich habe Rosenkranz jeden Tag gesehen – oder zumindest jeden zweiten Tag. Er war für mich da, im doppelten Sinn. Das heißt, ich hatte keine besondere Freude daran, ins Kinderheim meiner Mutter zu gehen. Die Kinder, die dort waren, verschwanden nach vier Wochen wieder. Echte Freundschaften gab es nicht. Und Moses, er war der Nachbar, der mir Schach beigebracht hatte und mit mir unendliche viele Partien spielte, woran ich mich positiv erinnere. Was aber auch immer verknüpft war mit Übergriffen, getarnten Übergriffen. Es hieß nicht: Jetzt will ich mit dir vögeln, sondern: Jetzt müssen wir uns waschen. Und dann sind wir zusammen duschen gegangen, und nach dem Duschen fing es an. „Vergnügen machen“, nannte er das. Und wenn ich das heute höre, läuft es mir immer noch kalt den Rücken herunter. Es war die große Überschrift, unter der das lief. Vielleicht haben wir auch tatsächlich nur eine Stunde zusammengesessen und Schach gespielt, dann aber wurde dieses „Defizit“ am nächsten Tag wieder ausgeglichen.

BALTZER:  Sie sagten, dass sich die Übergriffe steigerten. Können Sie über Einzelheiten sprechen?
K: Genitalien anfassen, „Vergnügen machen“. Er wusste stets genau, wie weit er die Spirale hochtreiben konnte, ohne dass er Gefahr lief, ich würde schreiend zu meiner Mutter rennen. Zum Beispiel: Er wollte, dass ich sein Glied in meinen Mund nehme. Ich habe das einmal getan und ihm gesagt, das würde ich nicht wollen, das fände ich ekelig. Er spürte, dass dies eine Grenze war, die er nicht überschreiten durfte. Er hat sich dann oft an meinem Rücken gerieben, während ich auf dem Bauch lag, und er ejakulierte dann, was ich überhaupt nicht mochte, was aber immer noch unterhalb der Schwelle war, aufzubegehren. Das Reiben, das Stimulieren der Geschlechtsteile, das waren die wesentlichen Aktivitäten. Eins weiß ich sicher: Hätte er Praktiken verlangt, bei denen ich körperliche Schmerzen erfahren hätte, wäre das für ihn eine Grenzüberschreitung zu viel gewesen. Dann wäre ich, pfeifend auf alle Konsequenzen, schreiend zu meiner Mutter gerannt. Wie gesagt, er wusste immer ganz genau, wie weit er gehen konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass ich ihn verpfeifen würde.

BALTZER: Haben Sie damals nachgedacht, wie entkomme ich all dem?
K: Ja, es gab natürlich das Gefühl: Ich will das nicht. Und gleichzeitig, so sehe ich das heute, war ich in einem Spinnennetz aus klebrigen Fäden gefangen. Ich habe damals daran gedacht, etwas zu erzählen, aber ich habe es nicht getan wegen der Drohgebärden von Rosenkranz. Er sagte: Wir hätten ein Geheimnis. Und das würden andere Menschen nicht verstehen. Und wenn ich jemandem etwas davon erzählen würde, dann käme er ins Gefängnis und ich in ein Heim, und ich könnte auch meine Mutter, meinen Bruder nicht mehr sehen. Ich hatte durch die Scheidung quasi meinen Vater verloren. Jetzt auch noch Bruder und Mutter zu verlieren? No way! Meine Wut und Verzweiflung habe ich ausgelebt an den Gegenständen in unserer Wohnung, tunlichst nur an den Polstern, die ich durch die Zimmer schmeißen konnte, um sie hinterher wieder aufzuräumen. Aktionen, die keine Spuren hinterließen. Ich habe mein Stofftier malträtiert – wohl der richtige Ausdruck. Und meine Mutter hat meinem Steiff-Hund die Zunge wieder angenäht, die ich ausgerissen hatte. Aber unterm Strich: Ich habe nichts getan, über das man sich wirklich wundern konnte.

BALTZER: Übte Rosenkranz auch psychischen Druck auf Sie aus? Wurden Sie von ihm erpresst?
K: Ja. Heute denke ich, dass die sexuellen Übergriffe eine Seite der Medaille sind. Die andere Seite ist, und ich habe keine bessere Bezeichnung dafür, „psychische Vergewaltigung“. In beiden Fällen geht es darum, Macht auszuüben, oder sogar Sadismus gegenüber einem Menschen, einem Kind, das sich nicht wehren kann. Ein Beispiel für die psychische Vergewaltigung steht im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt meiner Mutter. Ich war während dieser Zeit bei Rosenkranzens untergebracht. Wir waren in der Küche, Doris Rosenkranz war dabei, und Moses Rosenkranz fragte mich, wen ich lieber hätte, meinen Vater oder meine Mutter. Das war eine seltsame Frage, auf die ich nicht antworten wollte. Er bedrängte mich: Das müsse ich doch wissen. Ich dachte, jetzt bin ich ganz schlau und sagte: Vamu. Er sah mich an und sagte: „Soso, du willst also deinen Vater lieber sehen als deine Mutter. Erst Va, dann Mu. Das ist ungerecht deiner Mutter gegenüber, denn die liegt im Krankenhaus, ist schwer krank. Wir fahren heute ins Krankenhaus, aber wir nehmen dich nicht mit. Wenn du deinen Vater lieber sehen möchtest, dann kannst du auch hierbleiben.“ Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Eine gefühlte Ewigkeit später gab er nach und sagte: „Na gut, wir werden dich mitnehmen. Und wir werden deiner Mutter nicht sagen, dass du sie eigentlich gar nicht sehen willst.“ Als ich das Krankenhauszimmer betrat und meine Mutter sah, heulte ich los. Dieser Psychoterror schwang beständig mit. Dieses Kleinhalten beherrschte er perfekt, und seine Frau Doris ebenso.

BALTZER: Frau Rosenkranz hat nie etwas bemerkt?
K: Doris Rosenkranz war niemals anwesend, wenn er sich an mir verging. Aber heute bin ich sicher, dass sie von alldem gewusst hat, es im besten Fall nur deckte oder sogar aktiv gefördert hat. Ich erinnere mich zum Beispiel genau daran, dass Rosenkranz innenseitig das Schlüsselloch des Schlafzimmers mit Leukoplast zugeklebt hatte. Auf meine Frage, warum er denn das gemacht habe, sagte er, damit niemand sehen könnte, wenn er und Doris Sex hätten. Den Gedankenschritt, dass ja wohl niemand anderes mehr im Haus sei, wenn die beiden Sex hätten, den habe ich als Zehnjähriger nicht gemacht. Aus heutiger Perspektive gehe ich davon aus, dass sie das nicht nur nicht mitbekommen, sondern auch gedeckt hat. Und ich gehe, aber das ist eine Hypothese, einen Schritt weiter: In ihrer Position als Lehrerin war Doris Rosenkranz durchaus in der Lage, ihrem Mann „Frischfleisch“ zuzuführen.

BALTZER: Aber sie war Ihres Wissens nie Zeugin?
K: Nein. Sie war wohl nie Zeugin des Missbrauchs. Gleichzeitig war sie beteiligt an Szenen, die der Lehrerin eines Schülers nicht zugestanden haben: Wir lagen alle drei nackt auf der Dachterrasse ihres Hauses. Ich war einer ihrer Schüler! Am Nachmittag nackt auf der Terrasse, und am kommenden Morgen wieder Schüler und Lehrerin? Und auf der Terrasse riss Moses Rosenkranz den Witz, den er später gefühlt 150 Mal wiederholte, und der dadurch auch nicht besser wurde: „Schau, eine Frau ist eine Wüste, hier sind die zwei Pyramiden und hier ist die Oase.“

Foto: Doris Rosenkranz

BALTZER: Ahnte Ihre Mutter etwas von den sexuellen Übergriffen?
K: Als ich mit meiner Mutter als Erwachsener gesprochen hatte, erzählte sie, dass ich mich damals veränderte und schnell begonnen hätte zu weinen. Den Grund dafür habe sie nicht erkannt. Der Gedanke, dass mich der Mann meiner Lehrerin missbrauchte, sei für sie abwegig gewesen, ein Gedanke, der ihr nie gekommen war.

BALTZER: War die Erinnerung an den Missbrauch stets gegenwärtig oder war sie verschüttet? Wie hat sie Ihr Leben als Erwachsener beeinflusst?
K: Die Erinnerung an das, was mir geschehen ist, war nie gänzlich verschüttet. Es war eher eine Erinnerung an einen mechanischen Vorgang: Moses Rosenkranz hat mit mir sexuelle Spielchen gespielt. So harmlos wie dieser Satz klingt, so harmlos war er auch in meinen Erinnerungen gespeichert. Ich habe mich während meines Studiums sehr für Psychologie interessiert, las Unmengen an Büchern, Alice Miller hoch und runter, ich hätte alle Menschen therapieren können, meine Freundin, meine Familie – alle. Bis zu jenem Tag Ende Juni 1991. Ich arbeitete an meiner Magisterarbeit und ich saß an jenem Morgen in meiner Studentenbude, hörte Radio. Darin sprach eine Professorin darüber, dass sie eine Untersuchung über den sexuellen Missbrauch an Jungen plane. Und sie suche Männer, die darüber in einem Fragebogen Auskunft geben würden. Das war das erste Mal, dass ich kapierte: „Die reden ja über dich!“ Dass ich selbst Opfer war, das hatte ich zwar im Hinterkopf gespeichert, aber die Einsicht, jemand hat mich vergewaltigt – und das über Monate hinweg – , diese Erkenntnis kam erst durch diese Sendung zustande.

BALTZER: In einem ärztlichen Gutachten aus dem Jahr 1992, das Sie mir zeigten, ist von „Traumatischer Neurose“ die Rede. Was unternahmen Sie nach der Radiosendung?
K: Ich habe den Fragebogen bestellt, ich habe ihn ausgefüllt. Ich habe vier Tage gebraucht, um ihn auszufüllen: Gleichzeitig habe ich mir Literatur über den Missbrauch an Jungen besorgt: Das Procedere des Ausfüllens war Folgendes: Eine Frage lesen, sie beantworten – 20 Minuten Heulen –, nächste Frage lesen – 20 Minuten Heulen und wieder ein paar Kapitel in einem der Bücher lesen. Es war ein Parforceritt, bei dem ich Vieles zum ersten Mal verstand. Etwa dieses: Dass der angepasste Junge, der ich war, mit dem die Mama keine Schwierigkeiten hatte, dass dieser Junge eine Aggression in sich trug, deren Ursache ich nie verstanden habe. So hatte ich etwa Stofftiere, die ich liebte – und die ich regelrecht folterte. Aggressionen auf der einen Seite und Hilflosigkeit im Leben auf der anderen – dass das mit Rosenkranz zu tun hatte, begriff ich erst in diesem Monat 1991, als ich den Fragenbogen ausfüllte. Da war sie zum ersten Mal: die unglaubliche Wut, der Hass auf diesen Menschen, der sich an mir vergangen hatte nur zu einem Zweck: des Aufwertens seines Egos und der Befriedigung seiner pädophilen Neigungen. Parallel dazu schrieb ich all meine Erinnerungen an jene Zeit nieder. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich mir Hilfe holen musste, um nicht irgendwann vor eine S-Bahn zu springen – die Aggression gegen mich selbst zu richten. Die Neurose erstreckte sich auch auf den sexuellen Bereich. Als ich mit meiner ersten Freundin schlief, stand ich neben uns und schaute auf uns herab. Dieses Abgespaltensein vom eigenen Ich, dass dies ein Schutzmechanismus war, den ich 10 Jahre zuvor entwickelt und perfektioniert hatte, um vor jeglicher Sexualität zu fliehen – es dauerte viele Monate, den Mechanismus zu begreifen. Und Jahre, ihn nicht mehr leben zu müssen.

BALTZER: Sie sagten, Sie hätten Hilfe gesucht. Haben Sie sie gefunden?
K: Ja. Zum Glück. Es war seinerzeit nicht einfach, einen Therapeuten zu finden, der von der Kasse zugelassen war und der zum anderen keine Warteliste von mehreren Jahren hatte. Ich übertreibe nicht … Doch zwei Jahre nach dem Fragebogen habe ich einen Therapieplatz bei einem Psychologen bekommen, der mit mir arbeiten konnte und mit dem ich arbeiten wollte. Ich war dann gut zwei Jahre lang in Therapie.

BALTZER: Hat diese Therapie Ihre Wunden heilen können?
K: Dazu kann ich zwei Dinge sagen. Zum einen: Ja. Diese Therapie hat mir geholfen, mit dem Erlebten umzugehen. Es einzusortieren, zu verarbeiten, zu bewerten, zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ohne dass ich einen Ton gesagt habe; zu verstehen, wie hilflos das Kind damals war. Und zu begreifen, dass der Erwachsene nicht mehr hilflos ist. Dass das Damals nicht mehr das Heute ist. Zum Zweiten: Wenn Sie von Wunden sprechen, dann kann ich sagen, sie sind verheilt. Das bedeutet: Es sind Narben geblieben. Narben haben den Vorteil, dass die Infektion beseitigt ist, dass kein Eiter mehr fließt, dass die Wunden gereinigt sind. Gleichzeitig ist eine Narbe immer eine Narbe: An den wenigsten Tagen nimmt man sie überhaupt wahr. Dann, manchmal, wird man ein wenig wetterfühlig an jenen Stellen. Und dann gibt es die Tage, und zum Glück sind sie selten, da schmerzen die Narben. Richtig. Wie eine offene Wunde. Jeder, der solche Narben hat, wird das nachvollziehen können.

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